Der „Eid“ der Seeleute
In eine Seefahrerdynastie hinein geboren zu werden, ist nicht immer einfach. Es werden unausgesprochene Forderungen an Dich gestellt. Die Tradition muss weiterleben.
Auf der anderen Seite erhält man dann, oft ungefragt, auch noch „Werte“ vermittelt die man in jungen Jahren für selbstverständlich nimmt und welche auch so manches Mal ein genervtes Augenrollen bei mir hervorriefen. Man will den ganzen „Müll“ nicht hören und viel lieber Spaß haben. Doch mit den Jahren kommt dann auch die Ruhe und ein Funken Weisheit. Und so merke ich von Jahr zu Jahr vermehrt, wie mich diese Werte durch mein Leben begleitet und auch geleitet haben.
Es sind Wahrheiten, die gut tun und deren Wahrhaftigkeit ich so manches Mal am eigenen Leib spürte. Die Claudia und mir, auch in unserem Leben an Land, sehr geholfen haben.
Nun stehe ich plötzlich an der Stelle, an welcher vor über 40 Jahren mein eigener Großvater stand und habe die Aufgabe, die Tradition weiterzureichen. Weiter an jüngere Hände. An Hände die es wert sind.
Nun haben wir selbst zwar leider keine Kinder bekommen können, jedoch sind viele wunderbare Kinder über die Jahre in unser Leben getreten, denen wir etwas mit auf den Weg geben konnten.
Zum Beispiel Jan, der trotz widriger Umstände zu einem wundervollen Menschen gereift ist und mit dem mich viel verbindet. Jessica, die als junge Schülerpraktikantin in meine Apotheke kam und später erfolgreich Ihre Ausbildung zur pharmazeutisch technischen Assistentin abschloss und die mir stets eine Tochter war und ist. Maximilian und Isabel, die wir auf ihren Weg begleiten dürfen und welche wir glücklicherweise ebenso zu „unseren Kindern“ zählen dürfen. Ihr seid uns, auch in Eurer unbändigen Art, immer eine Freude. Genauso wie der kleine Jan und Ben.
Doch ein sehr großes Glück bereiten uns gerade meine beiden Patenkinder, Benedikt und Tim, die sich beide anschicken die Tradition fortzuführen und selbst auch Seeleute werden wollen.
Für Euch alle habe ich die Werte und deren Bedeutung, die mich mein Großvater einst lehrte, niedergeschrieben.
Damit Ihr stets einen Kompass für den richtigen Kurs in Euch tragen könnt.
Mir ist natürlich bewusst, dass auch Ihr jetzt mit den Augen rollen werdet. Genauso wie ich einst, als ich in Eurem Alter war. Aber dies ist nun einmal die Quintessence dessen, was ich Euch über all die Jahre lehren wollte.
Und für Bene und Tim: Seht es als eine Art „Eid“ um in die wahre Gemeinschaft der Seeleute aufgenommen zu werden. Denn dies hat Ehre.
Wir Seeleute sind
zuverlässig,
vorausschauend
und nur ein Teil eines Ganzen.
Wir haben immer eine Hand für uns und Eine für das Schiff.
Wir sind wahrhaftig.Denn auf der offenen See werden alle Lügen offenbart.
Was bedeutet das nun?
Zuverlässigkeit
Wenn ein Seemann (Seemann ist hier bitte geschlechtsneutral zu sehen) nicht zuverlässig ist, kann ein Unglück geschehen. Er hat seinen Auftrag stets zuverlässig auszuführen. Wenn er einen Befehl nicht genau verstanden hat, hat er sofort nachzufragen. Die gesamte Schiffsbesatzung verlässt sich darauf, dass er seinen Auftrag sicher erfüllt. Kümmert der Seemann auf dem Vorschiff sich nicht um seine Vorleine oder Vorspring und legt sie nicht zur rechten Zeit über, so vertreibt das Schiff im Hafen und kann großen Schaden verursachen. Die Mannschaft verlässt sich auf Dich. Enttäusche sie nicht!
vorausschauend
Ein schöner Satz lautet: wann beginnst Du deine Segel zu reffen? Sobald Du den ersten Gedanken daran verschwendest!
Auf See zu sein ist kein Spiel sondern das pure Leben. Es gibt kein Netz und doppelten Boden. Reffst Du Deine Segel nicht rechtzeitig, kann es bald zu spät sein und Du erleidest im Sturm den Schiffbruch.
Denke immer zwei bis drei Schritte voraus. Sei immer achtsam. Schütze Dich und Deine Mannschaft. Die Mannschaft verlässt sich auf Dich. Enttäusche Sie nicht!
Ein Teil eines Ganzen
Was ist ein Seemann ohne Mannschaft? Ein Fußgänger!
Auch ein Einhandsegler hat eine Mannschaft. Zumindest im Kopf. Er muss die Rollen aller anderen Mitglieder seiner Mannschaft in sich vereinen. Immer wissend, „welchen Hut“ er gerade auf hat. Es müssen alle Aufgaben erfüllt werden. Und gerade der erfahrene Einhandsegler weiß sehr genau, dass man sich aufeinander verlassen muss.
Seemannschaft bedeutet Teamarbeit. Man verlässt sich nahezu blind aufeinander. Und dessen muss man sich würdig erweisen. Denn ansonsten geschieht ein Unglück.
„Sololäufe“ und egoistisches Verhalten haben auf See nichts zu suchen.
„Ein Teil eines Ganzen“ gilt auch für die Gesamtheit der Seeleute. Wir helfen uns und lassen uns nicht im Stich. Niemand soll zurückbleiben. Egoisten haben hier nichts zu suchen. Die Mannschaft verlässt sich auf Dich. Enttäusche sie nicht!
Wir haben immer eine Hand für uns und Eine für das Schiff.
Was nützt mir ein Held auf dem Vorschiff, wenn er über Bord geht.
Immer an die Eigensicherung denken. Es wird jede Hand an Bord gebraucht. Und auch wenn wir die Boje/Mensch über Bord Manöver rauf und runter fahren, so ist dies keine Gewähr, dass wir Alle auch wirklich retten können.
Wer schon erlebt hat, wie schwer es ist eine Markierungsboje gegen Licht zu sehen, der sollte sich auch Gedanken darüber machen wie schwierig es sein wird einen 100kg schweren Seemann mit seinen mit Wasser durchtränkten Klamotten wieder an Bord zu bekommen.
Wir brauchen keine Helden. Wir brauchen Menschen auf die wir zählen können. Die Mannschaft braucht Dich. Enttäusche sie nicht!
wahrhaftig
JA heißt JA und NEIN bedeutet NEIN. Lügen und Intrigen. Falsches Zeugnis und Angeberei sind auf einem Schiff das Schlimmste was man sich vorstellen kann. Sie rauben dringend benötigte Ressource oder gaukeln vor, man könne sich auf Jemanden verlassen. Doch in der Feuertaufe des Sturms wird alles offenbart.
Nur kann es dann eben zu spät sein und Du gefährdest Leben.
Sei stets ehrlich und zuverlässig.
Die Mannschaft verlässt sich auf Dich und auf offener See wird offenbar, ob Du ein echter Seemann bist.
Dies sind die Werte, die mein Großvater mir mitgegeben hat. Ich habe in den Jahren auch beim Segeln viele Menschen kennengelernt, die sich nicht an diese Werte gehalten haben. Die lieber das Glück im eigenen Vorteil suchten. Aber viel Ehre hatte das nie.
Hat man keine Werte, so ist man wie ein Blatt im Wind. Schnell verweht. Aber auf See brauchen wir Wurzeln um auch die schlechten Zeiten zu bestehen.
So wünsche ich Euch Mast- und Schotbruch und immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel. Auf das Gott Euch gnädig sein möge.